Flucht, Vertreibung, Asyl – das sind nicht erst seit 2015 aktuelle Begriffe in Deutschland. Diese wichtigen Themen betrachteten die Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen EF und Q1 nun am ersten Tag der „Projektwoche Nachhaltigkeit“ aus unterschiedlichen Perspektiven. Der Projekttag „Grenzgeschichten“, mit dem die Hamburger „Multivision e.V. – Verein für Jugend- und Erwachsenenbildung“ an der Hannah-Arendt-Gesamtschule zu Gast war, beleuchtete dabei sowohl rechtliche Aspekte wie auch die Motive und die Ängste der Menschen, die ihre Heimat verlassen und Zuflucht in anderen Ländern suchen. Dabei kam es zu Beginn zu einigen „Aha-Effekten“, als die Moderatoren Patric Dujardin und Jannes Umlauf die Jugendlichen um Einschätzungen zu Flüchtlingszahlen und insbesondere zu den Zufluchtsländern baten: Zur Überraschung der Schülerinnen und Schüler kommen nämlich entgegen der allgemeinen Einschätzung nur ein Bruchteil der weltweit über 80 Millionen Menschen auf der Flucht überhaupt nach Europa. Vielmehr sind es gerade die ärmeren Regionen der Welt, die Geflohene aufnehmen.
Auch Stereotype über Aussehen und Herkunft wurden mit Hilfe von Fotos bekannter Menschen aus Gegenwart und Vergangenheit entkräftet: Die Bilder machten deutlich, dass es Flucht schon immer gegeben hat und dass auch Deutsche vor gar nicht allzu langer Zeit fliehen mussten.
Tiefe Eindrücke hinterließ hierzu ein Film, in dem junge, vor kurzem nach Deutschland gekommene Geflüchtete und am Ende des 2. Weltkriegs geflüchtete Deutsche im Gespräch miteinander deutlich machten, wie sehr sich ihre Erfahrungen ähneln.
Noch eindrucksvoller waren dann die folgenden Begegnungen mit zwei Geflüchteten, die den Oberstufenschülerinnen und -schülern über ihre persönlichen Erfahrungen berichteten: Ehsan Kudair, der aktuell in der ZUE am Hiddingser Weg lebt, erzählte von seiner neun Monate dauernden Flucht aus dem Irak bis nach Deutschland – von den Bedrohungen in seiner Heimat über die Not und Misshandlungen durch die Grenzpolizei auch in europäischen Staaten bis zu seiner Ankunft in Deutschland, wo er nun im Asylverfahren ist.
Eine ganz andere „Grenzgeschichte“ erzählte Mario Röllig, der als Zeitzeuge über seinen Fluchtversuch aus der DDR und seine Haft im Stasigefängnis Hohenschönhausen sprach. Röllig schilderte sehr anschaulich sein Leben in der DDR und wie ihn die Staatssicherheit anzuwerben versuchte: Er sollte seinen Westberliner Geliebten ausspionieren und erpressen. Als er sich weigerte, verlor er seine Arbeit und wurde weiter von der Stasi drangsaliert. Er beschloss daher, über Ungarn und Jugoslawien in den Westen zu fliehen. Auf der Flucht wurde Röllig im Sommer 1987 in Ungarn verhaftet und zurück in die DDR ausgeliefert. Drei Monate lang war er dort in totaler Isolation in Stasi-Untersuchungshaft, ohne zu wissen, an welchem Ort er sich befand. Er wurde wegen versuchter Republikflucht angeklagt. Auch als er nach drei Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, setzten sich die persönlichen und beruflichen Repressalien fort. Mario Röllig stellte einen Ausreiseantrag und wurde schließlich von der Bundesrepublik freigekauft und im März 1988 aus der DDR ausgebürgert. Die jungen Erwachsenen im Publikum waren sichtlich beeindruckt von seinen Schilderungen und stellten zahlreiche Fragen.
Im abschließenden Plenum kamen als weitere Gäste Emma Schiller vom Jugendmigrationsdienst der AWO Soest und Verena Jenter von der Flüchlingsberatung Soest der Diakonie Ruhr-Hellweg e.v. zu Wort. Beide arbeiten mit geflüchteten Menschen und konnten nicht nur zu deren rechtlicher Situation und ihren Lebensbedingungen in Soest, sondern auch zu ihren Biographien berichten. Frau Jenter, die an der ZUE am Hiddingser Weg arbeitet, beschrieb den Ablauf des zumeist langwierigen Asylverfahrens. Frau Schiller bietet im Stadtteilhaus Soester Süden verschiedene Projekte für Menschen mit Migrationshintergrund mit an und ermutigte die Schülerinnen und Schüler, sich ebenfalls für die Integration zu engagieren.
Am Ende des inhaltlich vielfältigen und spannenden Projekttages waren sich alle Beteiligten einig, dass die Eindrücke zu diesem weiterhin hochaktuellen Thema das Verständnis für aktuelle Fluchtsituationen gestärkt hat. Die positiven Reaktion der der Schülerinnen und Schüler, ihre rege Beteiligung und ihre Empathie beweisen: Die „Grenzgeschichten“ haben dazu beigetragen, eine Sensibilisierung für die Themen „Flucht und Asyl“ zu erreichen.