„Das ist viel interessanter als normaler Unterricht“, erklärt Amelie Westermann, Schülerin der Einführungsphase in die Gymnasiale Oberstufe an der Hannah-Arendt-Gesamtschule. Sie nimmt mit ihrem Jahrgang an der Planspiel-Woche zum Thema: „Festung Europa?“ teil. Wie im vergangenen Jahr arbeiten die Schülerinnen und Schüler auch diesmal wieder fünf Tage lang außerhalb des normalen Fachunterrichts an einem politischen Thema.
Es geht darum, eine „Sondersitzung“ des Europäischen Rates, der Versammlung der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer, zu einer gemeinsamen „Asyl- und Flüchtlingspolitik der Europäischen Union“ vorzubereiten und am letzten Tag der Planspiel-Woche durchzuführen.
Sehr schnell sprechen die Planspiel-Teilnehmer/innen sich nicht mehr mit ihren Namen an, sondern reden nur noch davon, dass „Italien“ sich vom aktuellen Sondergipfel „eine deutliche Verbesserung der Lage“ erhoffe und das „Vereinigte Königreich“ am „Dublin-Abkommen“ festhalten und keine Flüchtlinge aufnehmen wolle. Die Schülerinnen und Schüler schlüpfen in die Rollen der Staats- und Regierungschefs, Klassenräume werden zu Arbeitszimmern und Konferenzsälen. Positionen, Verhandlungsziele und -strategien müssen entwickelt, Gesprächsangebote formuliert und Koalitionen gebildet werden – wie im wirklichen Leben. Begleitet werden die zwischenstaatlichen Verhandlungen und Konferenzen der Staats- und Regierungschefs von einer Presse-Gruppe, die den Verlauf einzelner Verhandlungen kritisch beobachtet, Interviews führt und die Ländergruppen mit ihren Zeitungsartikeln und News Feeds über den jeweiligen Stand der Diskussionen informiert.
In der Abschluss-Konferenz der EU drängen vor allem die Vertreter der südeuropäischen Staaten auf eine „Reform“ der Flüchtlingsverteilung. Argumente werden ausgetauscht, Positionen vertreten. Doch die Verhandlungen drohen zu scheitern. Insbesondere Großbritannien gerät ins Abseits. Dennoch: Österreich bringt den entscheidenden Kompromissvorschlag ein, und die Vereinbarungen zur Sicherung der Grenzen sowie Verteilung der Flüchtlinge finden Zustimmung aller 28 EU-Staaten. Zufrieden verlassen die Politiker die Ratssitzung.
„Gegenwärtig beobachten wir eine zunehmende Europa-Feindlichkeit in allen EU-Ländern“, erläutert Michael Morth, Lehrer für die Fächer Deutsch und Sozialwissenschaften und Mit-Initiator des Planspiels an der Hannah-Arendt-Gesamtschule, das Projekt. „Übernationale Zusammenarbeit als Voraussetzung für Frieden und Freiheit in Europa wird immer häufiger in Frage gestellt. Schulen haben deshalb die Aufgabe, die Lernenden nicht nur mit Lehrbuch-Texten über die Hintergründe zu informieren, sondern vor allem auch für die Folgen dieser Entwicklung zu sensibilisieren. Dieses Ziel können wir nur erreichen, wenn wir die Schülerinnen und Schüler einen politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess auf EU-Ebene durchspielen und auf diese Weise miterleben lassen.“ Thomas Hann, einer der beiden Beratungslehrer des Jahrgangs, der auch für die technische Unterstützung gesorgt hat, ergänzt: „Wichtig ist, dass die Planspiel-Teilnehmerinnen und -teilnehmer sich in ihre Rollen einfühlen können. Im digitalen Zeitalter funktioniert die Kommunikation auf politischer Ebene nicht mehr nur über Gespräche und den Schriftverkehr. In diesem Jahr haben wir deshalb zum ersten Mal auch Tablets für den Empfang von Nachrichten zum Verlauf der Länderverhandlungen über unser Netzwerk erfolgreich eingesetzt.“
„Unsere Sozialwissenschaftslehrer/innen haben ein eintägiges Planspiel der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg für unsere Planspiel-Woche ergänzt und umgearbeitet. Das Interesse der Schülerinnen und Schüler sowie der Lernerfolg im vergangenen und in diesem Jahr geben uns recht“, erklärt Joachim Fernkorn, Oberstufenleiter der Hannah-Arendt-Gesamtschule. „Was im vergangenen Jahr als Vorbereitung der Brüssel-Fahrt unseres 11. Jahrgangs und als eine zeitgemäßere Form kompetenzorientierten Unterrichts erprobt werden sollte, hat sich bewährt und wird deshalb auch in Zukunft in der Einführungsphase der Oberstufe als fester Projektbaustein verankert.“
Ende März ist es soweit: 60 Schülerinnen und Schüler fahren für drei Tage in die europäische „Hauptstadt“ und besuchen u. a. das EU-Parlament und die –Kommission, begleitet durch die Europaabgeordnete Birgit Sippel. Man darf gespannt sein, wie das wahre politische Leben aussieht.